Risikofaktoren für die Entwicklung einer Anorexie oder Bulimie sind neben genetischen Faktoren Übergewicht oder psychische Erkrankung der Eltern, „Überbehütung“ oder familiäre „Verstrickung“, das gesellschaftliche Schlankheitsideal, bestehendes eigenes Übergewicht, kritische Bemerkungen des Umfeldes über Figur und Essverhalten, häufige Diäten oder gezügeltes Essverhalten, geringes Selbstwertgefühl, Depression, Zwangs- und Angststörung, Perfektionismus und Leistungssport.
Ungefähr 2/3 aller heranwachsenden Frauen leiden zumindest zeitweise unter gestörtem Essverhalten, halten beispielsweise chronisch Diät oder haben gelegentliche Heißhungerattacken. Die Kriterien für eine krankheitswertige Essstörung erfüllen jedoch deutlich weniger: Unter 1% der Bevölkerung leidet an Anorexie und 1-2% an Bulimie. Frauen sind elf Mal häufiger betroffen als Männer.
Die Kriterien der Anorexie sind
- Körpergewicht von mind. 15% unter dem erwarteten Gewicht oder BMI ≤ 17,5 kg/m2 (BMI ist der Body-Mass-Index, der sich aus Körpergewicht [kg] / Körpergröße [m2] errechnet, Normalgewicht bei BMI = 20-25)
- selbst herbeigeführter Gewichtsverslust durch Vermeidung hochkalorischer Speisen sowie folgende Maßnahmen: selbstinduziertes Erbrechen bzw. Abführen, übertriebene körperliche Aktivität, Entwässerungsmittel- oder Appetitzüglergebrauch
- Körperschemastörung, massive Angst, dick zu werden und sehr niedrige Gewichtsschwelle
- endokrine Störung auf der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse (erniedrigter Sexualhormonspiegel, dadurch Verlust von sexuellem Verlangen, Potenzstörungen, Störungen des Knochenstoffwechsels und bei den Frauen Ausbleiben der Monatsblutung, es sei denn, sie nimmt die „Pille“), erhöhter Wachstumshormonspiegel (führt zu Lanugo-Behaarung) und Kortisolspiegel (Stresshormon), ggf. auch Änderung des periphären Metabolismus von Schilddrüsenhormonen und Störung der Insulinsekretion (erhöhte Diabetesgefahr)
- Bei Beginn vor der Pubertät ist die pubertäre Entwicklung verzögert, wird nach Abklingen der anorektischen Störung häufig normal abgeschlossen.
Unterschieden werden zwei Unterformen der Anorexie:
- restriktive Form ohne aktive Maßnahmen zur Gewichtsabnahme
- bulimische Form mit aktiven Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (Erbrechen, Abführen etc. in Verbindung mit Heißhungerattacken)
Weitere körperliche Folgeerscheinungen sind u.a. Erschöpfung, trockene Haut, Haarausfall, Blutarmut und Nervenschäden durch Vitamin- und Mineralstoffmangel, Kreislaufstörungen, teilweise lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen und Nierenschäden bis hin zur Dialysepflicht. Ungefähr 10% der Betroffenen versterben an den Folgen des Untergewichts oder durch Suizid.
Eine Bulimie kann diagnostiziert werden bei
- andauernder Beschäftigung mit Essen, unwiderstehliche Gier nach Nahrungsmitteln, Essattacken, bei denen große Mengen (überwiegend hochkalorischer, sonst gemiedener Nahrungsmittel) in sehr kurzer Zeit konsumiert werden,
- Versuchen, dem dickmachenden Effekt der Nahrung entgegenzusteuern durch selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, Appetitzüglern, Schilddrüsenpräparaten oder Entwässerungsmitteln sowie Vernachlässigung der Insulinbehandlung bei Diabetikern und
- krankhafter Furcht davor, dick zu werden; die selbst gesetzte Gewichtsgrenze liegt weit unter dem prämorbiden (= vor Erkrankungsbeginn) oder gesunden Gewicht.
- Häufig besteht eine anorektische Episode in der Vorgeschichte.
Typische körperliche Folgeerscheinungen sind Elektrolytstörungen, die zu Muskelkrämpfen, epileptischen Anfällen, Herzrhythmusstörungen und Muskelschwäche führen können sowie Zahnschäden, Vergrößerung der Ohrspeicheldrüsen, Reflux mit Sodbrennen und Speiseröhrenschäden als Folge des Erbrechens und Flüssigkeitsmangel, Verstopfung, Krämpfe und Blähungen nach Missbrauch von Abführ- und Entwässerungsmitteln.
Unter einer Binge-Eating-Störung leiden Frauen und Männer im Verhältnis 2:1. Kennzeichen sind seit mind. sechs Monaten mind. 2 x pro Woche auftretende, unkontrollierte „Fressattacken“, in denen große Nahrungsmengen häufig ohne körperliches Hungergefühl schnell und bis zu einem unangenehmen Völlegefühl gegessen werden. Psychische Folge sind Selbstekel, Deprimiertheit, Scham- oder Schuldgefühle. Es werden keine regelmäßigen, einer Gewichtszunahme entgegensteuernden Maßnahmen, wie z.B. selbstinduziertes Erbrechen, Fasten oder exzessive körperliche Betätigung, getroffen. Daher sind die meisten Betroffenen übergewichtig (BMI > 25).
Wie kommt es nun zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Essstörungen? Laessle erklärt das folgendermaßen: Je mehr der anfangs beschriebenen Risikofaktoren vorliegen, desto wahrscheinlicher ist es, dass kritische Lebensereignisse, die zu diesem Zeitpunkt nicht bewältigbar erscheinen, die Essstörungssymptomatik auslösen. Die biologischen Konsequenzen (Auswirkungen des körperlichen Mangelzustandes) und die psychosozialen Konsequenzen (soziale Isolation, Stimmungsschwankungen, Beeinträchtigung der geistigen Leistungsfähigkeit, ständige Beschäftigung mit Essen bzw. Nicht-Essen) halten die Symptomatik aufrecht, ein Teufelskreis entsteht.
Am Beispiel einer Bulimie-Patientin möchte ich das nochmals verdeutlichen:
Stellen Sie sich eine heranwachsende Frau vor, deren Freund sich gerade von ihr getrennt hat. Eine Frau, die sehr hohe Ansprüche an sich selbst hat und ohnehin an ihrer Attraktivität zweifelt, vielleicht schon öfters wegen ihrer „Problemzonen“ Diät gehalten hat. Die Trennung hat ihr Selbstwertgefühl zusätzlich geschwächt, ihre Stimmung ist depressiv. Sie entwickelt die Vorstellung, diese Situation über ihr Gewicht lösen zu können („Wenn ich erst richtig schlank bin, dann wird alles besser.“) und beginnt zu hungern. So streng Diät halten zu können erfüllt sie mit Stolz. Es entsteht jedoch ein körperlicher Mangelzustand, der zu Heißhungeranfällen führt. Schließlich stopft sie alles in sich hinein, was an Nahrungsmitteln verfügbar ist. Voller Scham- und Schuldgefühle über ihr Versagen und aus Angst vor Gewichtszunahme steckt sie sich den Finger in den Hals und erbricht. Danach fühlt sie sich erleichtert. Der körperliche Mangelzustand ist jedoch nicht behoben, und so kommt es immer wieder zu Ess-Brech-Attacken. Außerdem hat die junge Frau gelernt, wie sie mit dieser Methode ihren Alltagsstress abbauen und sich Erleichterung verschaffen kann. Schließlich legt sie sich bewusst Vorräte mit Nahrungsmitteln an, die „eigentlich verboten“ sind und die sich leicht wieder erbrechen lassen. Sie verliert zunehmend die Kontrolle über ihr Essverhalten, zieht sich deswegen immer mehr zurück, wird immer einsamer und depressiver und der Teufelskreis beginnt erneut.
Die Therapie von Essstörungen möchte ich nur kurz skizzieren:
- Informationsvermittlung zu Essstörungen, Folgeschäden, Hunger, Sättigung, „gesundem“ Essverhalten und Körpergewicht
- Erarbeitung eines individuellen Störungsmodells
- Vereinbarung eines Zielgewichts (BMI = 20 als Mindestnormalgewicht bei Erwachsenen) und eines entsprechenden Zunahmevertrages bei untergewichtigen Patienten
- Erlernen von Essregeln, Erarbeitung eines Essensplans, der auch eine zunehmende Ausweitung der Nahrungsmittelvielfalt beinhaltet, sowie regelmäßiges Führen von Essprotokollen
- Verbesserung der Selbststeuerung hinsichtlich Verhinderung oder Eingrenzung von Ess-Brech-Anfällen
- Abbau anderer Gewichtsreduktionsmaßnahmen wie z.B. exzessiver Sport oder Medikamentenmissbrauch
- Auseinandersetzung mit Schönheitsidealen und den perfektionistischen Ansprüchen an sich selbst
- Wahrnehmungs- und Genusstraining
- Verbesserung der Körperakzeptanz und ggf. Korrektur eines verzerrten Körperschemas
- Training des emotionalen Ausdrucks und der sozialen Kompetenz
- Bearbeitung weiterer Hintergrundprobleme (z.B. Ablöseproblematik vom Elternhaus, überzogenes Leistungsmotiv, traumatisierende Lebensereignisse)
Aufgrund der bedrohlichen körperlichen Folgen von Essstörungen ist eine ärztliche Mitbehandlung erforderlich, im Einzelfall auch in Form einer vorgeschalteten stationären Behandlung. Patienten mit Bulimie profitieren zusätzlich von der Einnahme von SSRI (=Selektiver Serononin-Wiederaufnahmehemmer, einem Antidepressivum, das den Serotoninspiegel zwischen den Nervenzellen im Gehirn erhöht).
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